Reisetagebuch Russland 05. Sept. 2018 - Tag: 484 - Gesamt: 8024 km - Eintrag: Michaela & Udo
Von Astrachan nach Kizlyar(Russland)
Eine leichte Vorahnung von dem, was kommen mag, gab es ja schon am Vorabend. Ein böiger Wind schüttelte die Bäume in Astrahans Park, rüttelte nachts am offenen Fenster unseres Hotelzimmers. Knapp 500 Kilometer bis nach Grosny, der Hauptstadt der russischen Teilrepublik Tschetschenien, und das aller Voraussicht nach mit Baustellen oder sogar Schotterstraßen, denn Onkel Tom malte Teile der Route in Orange, was Unannehmlichkeiten „en route“ erahnen lässt. Aber über Elista den Umweg nach Stavropol und dann über die M29 über Nalchik nach Vladikavkaz (Wladikafkas) zu wählen, das würde gut 150 km Umweg bedeuten und wäre unter den gegebenen Bedingungen und Straßenzuständen an einem Fahrtag mit CRFs nicht zu machen. Wir verlören also einen Tag, die Visumsschere ginge wieder enger zu…
Wolgawasser schwimmt noch einige Kilometer neben unserer Route her, unsichtbar weit entfernt zwar, aber mit weiten, grünen Schilfflächen, die der Wind gerbt und wie ein Meer wogen lässt. Ganz nah an der Straße begleitet uns das Nebenflüsschen Bakhemir und gestattet etlichen Straßendörfern Lebensraum und Einkommen durch Fischfang, Gemüseanbau und sogar ein wenig Viehhaltung. Krasnye Barrikady und Ikryanoe gehen noch als lebendige Ortschaften durch, zwar weit entfernt von intakt, aber mit einem durchaus reizvollen chaotisch-orientalen Flair. Wir ziehen an einer Ausbuchtung mit Blick auf den Bakhemir-Fluss links an den Straßenrand, landen auf einer wilden Müllkippe und direkt im Zuhause von mindestens zehn Puppy-Dogs und diverser Elternschaft. Endlich Abwechslung, welch eine schwanzwedelnde Freude! Kein Mensch weit und breit. Kein Haus, kein Futternapf - Herrgott, diese Hunde leben vom Abfall… Und was bringt ihnen der schnell nahende Winter? Als Hund in Russland hat man da bestimmt die A…karte gezogen!
Bis Liman ist die Straße ordentlich bis sehr gut ausgebaut, der Wind noch erträglich. Wir jubilieren bereits innerlich und hoffen, dass das Karten-Update des TomTom schon etwas angegraut war. Dann kommen die berühmt-berüchtigten gelben Schilder mit einer Baustellen- und Umleitungsankündigung nebst Kilometerangaben. Letzteres ist immer das Einzige, was ich begreife — und da steht irgend etwas von 150 Kilometern… Na, das kann ja heiter werden. Kilometerweit ist der Asphalt noch frisch gewalzt; kaum Gegenverkehr und noch weniger LKW, die einem doch sonst ständig das Nummernschild putzen. Es hätte uns auffallen müssen, doch wären wir nach 100 Kilometern wirklich noch nach Astrahan umgekehrt?
Schlagartig ist der Ausbau zu Ende; der blaue Pfeil auf dem Straßenschild weist auf eine übel grob geschotterte Piste und auf einem handgemalten Schild steht Махачкала (Makhachkala oder Machatschkala). Die Richtung stimmt also, kein Zweifel, die meinen das ernst - hier sollen wir weiterfahren. „Immer schön am Gas bleiben, Michaela, mit Druck auf den Fußrasten und Po hoch, wenn tiefere Schlaglöcher kommen!“ Und die kommen, vorderradtief, scharfkantig, versteckt hinter einem Hügel, so dass wir mit dem Tempo runtermüssen und teilweise im Trialstil daherrollen. Ich bekomme Angst, ob meine Lütte das durchhält, denn dazu kommt ein ekelhafter Seitenwind, der warme Luft vom Kaspischen Meer bringt und wie ein überdimensionaler Fön die Bikes auf die Seite drücken möchte. Das ist nervenaufreibend, kostet Kraft und macht auch ein wenig Angst — doch wir haben keine Alternative. 20 Kilometer, 40 Kilometer - unser Tagesziel rückt bei einem Schnitt von maximal 20 km/h bereits in weite Ferne.
Dann legt Russland noch einen Scheit drauf und fortan ist die Piste mit tiefen Sandfeldern gespickt, die der starke Wind von der Ebene in die tieferen Senkungen der Piste getrieben hat. „Wie fährt man so was?“, erklingt die Stimme meiner Frau im Kopfhörer, und ich tue alles, um eine „fahrbare“ Spur zu finden, sie mitzuziehen und ihr gleichzeitig Mut zu machen. Nicht zum ersten Mal auf dieser Reise bin ich froh, dass wir zwei leichte Enduros und keine schweren Reisedampfer dabei haben…
Ein kurzer Aufschrei, „Sch…ße!“ und der Rückspiegel zeigt nichts Gutes. Gemeinsam richten wir die CRF wieder auf, biegen Handprotektoren und Rückspiegelausleger wieder gerade. Michaela hat nichts gebrochen, die Satteltaschen haben den Umfaller wirksam abgefangen. Alles noch einmal gut gegangen… Hinter uns rauscht ein PKW in das Sandfeld (siehe Fotos) und fährt sich fest. Der Typ steigt aus, guckt kurz unters Auto und baggert sich dann rückwärts wieder frei. Materialmordend, aber was soll’s? Hier gelten andere Regeln. Dann hält er auf unserer Höhe nochmals an, gestikuliert in der Luft herum und erzählt irgend etwas von seinem Sohn und von Deutschalnd. Eh, mein Guter, ist ja toll — aber jetzt fahr bitte weiter, wir müssen dringend mal pi..ln — vor Aufregung, versteht sich! Interessiert den überhaupt nicht, bis ich ihm auf die Schulter klopfe und „Do swidaniye“ rufe.
Ein paar Kilometer weiter und etliche Sanderfahrungen reicher stoppe ich einen klapprigen LKW, der sich schwankend über die Piste wälzt. Wie lange noch, wann kommt wieder Asphalt? Fünf Finger zeigt die Hand und wir haben plötzlich wieder Adrenalin. Im grellen Gegenlicht taucht rechterhand dann tatsächlich eine Straßenbrücke auf und die Piste spuckt uns auf eine frisch asphaltierte Querstraße. UNSERE Richtung würde diese schöne Straße allerdings lediglich überqueren und erneut auf Stein und Sand weiterführen. „Egal, wohin diese Straße führt, auf der Piste fahr ich nicht mehr weiter!“ Klare Ansage! Ein PKW biegt in die Piste ein. Ich stoppe ihn und versuche, aus dem Fahrer mit Hilfe der Karte herauszubekommen, woher er kommt und wie wir weiter Richtung Artezian und Kochubey gelangen, ohne in die Sandkiste zu müssen. Aha, die Straße führt nach Ulan-Khol, dann weiter nach Komsomolskiy, und von da aus geht eine neue Straße nach Artezian. Auf meiner Straßenkarte gibt es die gar nicht, aber Michaelas russische Karte kennt sie und Onkel Tom? Der meldet seit geraumer Zeit „Straße ohne Namen“ und einen blauen Pfeil, der ins Nichts führt…
Pause in Ulan-Khol, ein kleiner Dorfladen hat Wasser, Gebäck, Eistee. Knapp 100 Kilometer gegen einen höllischen Seitenwind, dann ist Komsomolskiy erreicht. Tanken, weiter nach Artezian. Topfebenes Niemandsland, Steppe, flirrendes Licht, ein dunkelgrauer, gefährlicher Himmel. Wir sind in der „Prikaspiyskaya Nizmennost’“ - der „Caspian Depression“, wie diese Topfebene im Internet treffend genannt wird. Ehrlich, nach einer Scheidung möchte ich hier nicht unterwegs sein müssen… Wir liegen mehr auf den Enduros als dass wir sitzen, tief gebückt Richtung Vorderrad mit Druck auf den Lenker. Jede Bö bringt die leichten Enduros zum Tanzen, jeder LKW, der uns überholt, bedeutet Gefahr, da die Burschen den Seitenabstand meist sehr lässig nehmen und dich beim Wiedereinscheren zusätzlich noch schneiden. In Artezian stehen für den Umweg 180 Kilometer auf dem Tripmaster; direkt wären es um die 80 Kilometer gewesen, aber darüber schweigt sich meine Straßenkarte aus. Jetzt wissen wir auch warum. Liebe „Reise KnowHow“ Kartographen: Lasst Euch Euer Lehrgeld wiedergeben!!
In Kochubey eine Polizeikontrolle. Der Beamte versteht unser Anliegen erstaunlich schnell. Wir brauchen eine Unterkunft, denn nach Grosny ist es beim besten Willen nicht mehr zu schaffen. Und nachts auf Russlands Landstraßen fahren - no way! Die bisherigen Erfahrungen reichen völlig! In Kizlyar gäbe es etwas; also nochmals 90 Kilometer durch den Wind und ich wundere mich, dass Michaela das durchhält. Sie ist heute durchs Motorradfeuer gefahren und ich habe den allerhöchsten Respekt vor dieser Leistung!
Mit der zügig vom Himmel fallenden Dunkelheit erreichen wir endlich Kizlyar. Die letzte Militärkontrolle mit Check sämtlicher Dokumente und einer Befragung zu unserem Reiseziel hat uns unmissverständlich klargemacht, wo wir jetzt sind: in der russischen Teilrepublik Tschetschenien. Und wer dahin will, muss den Soldaten triftige Gründe nennen. Noch immer ist es nicht ganz ruhig in dieser Republik - 10 Jahre nach dem Krieg mit Russland. Noch immer wird Grosny regelmäßig von Anschlägen einiger Separatisten oder vom IS terrorisiert; folglich ist man wachsam und zeigt militärische Präsenz und Stärke auf allen Verbindungsstraßen.
Weit und breit kein Hotel; aber ein Truckstop-Busstop-Restoran-Polizeiposten-Gemenge in der Ortsmitte. Und einer der Männer kapiert, was wir suchen und schickt uns ein paar Kilometer zurück. An einer Tankstelle in der Einflugschneidse von Kizlyar gibt es tatsächlich ein Nebengebäude, in dem könnte… Der Tankwart ruft zwei Frauen herbei, Michaela darf einen Stock höher ein sauberes Zimmer beziehen, ich verhandle 2 Flaschen Pivo (Bier) und ein paar Kekse - und 1300 Rubel gehen über den Tisch (18 Euro). Die noch feuchten Handtücher kommen frisch aus der Wäsche, die Dusche funktioniert und das Zimmer hat ein orientalisches Klo. Was wollen wir mehr? Ende, Licht aus - nach fast 500 Kilometern „Abenteuer“ sind wir tot…—
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Silke Seibel (Sonntag, 09 September 2018 19:00)
Meine Hochachtung vor der fahrerischen Leistung auf der Sandpiste!
Viele Grüße aus der Heimat.
Iris und Jürgen (Sonntag, 09 September 2018 22:13)
Das braucht man auch nicht jeden Tag. Gott sei Dank ist beim Sturz nichts Schlimmeres passiert. Was für ein Husarenritt. Liebe Grüße von Unterwegs.