Reisetagebuch Russland 02. Sept. 2018 - Tag: 12 km zu Fuß - Gesamt: 7112 km - Eintrag: Michaela & Udo
Ein Ruhetag in Wolgograd (Russland)
Волгоград - Wolgograd. Eine moderne Industriestadt, Mittelpunkt des Wirtschaftsraumes am Unterlauf der Wolga und ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt in Südrussland. Ein paar nackte Fakten und ein wenig Geschichte:
1000 Kilometer sind es zurück nach Moskau, gute 1100 Kilometer noch weiter in den Süden bis zum russisch-georgischen Grenzübergang Werchni Lars/Kazbegi im Kaukasus. Hat die Wolga einmal die Stadt verlassen, muss sie noch gute 450 km bis zum Kaspischen Meer zurücklegen und wird auf diesem letzten Abschnitt ihren Charakter nochmals deutlich verändern. Über 60 Kilometer flankiert Wolgagrad den Strom und das mit einer Breite von satten 10 Kilometern. Am nächsten Tag werden wir erfahren, was es heißt, wenn eine Stadt nicht enden mag, wenn immer neue Trabantensiedlungen auftauchen. Mit Eingemeindungen von insgesamt 18 städtischen Siedlungen im Umfeld von Wolgograd zählt die Stadt heute über 1.000.000 Einwohner.
Früher, im 16. Jahrhundert, da hieß die Stadt noch Zarizyn und war eine Festung an der Engstelle zwischen Don und Wolga, um Russlands Südgrenzen sichern zu helfen. Die Holzforts standen damals auf einer heute nicht mehr existierenden Wolgainsel nahe der Einmündung des Flusses Zariza, der damit Namensgeber der ersten Stadt wurde. Viele Jahre und Jahrhunderte vergingen, dann kam der russische Bürgerkrieg und wütete von 1917 bis 1920 in den Straßen Zarizyns. Josef Stalin war in jener Zeit in der Stadt als Armeekommissar tätig, rettete die Einwohner vor dem Schlimmsten, und so wurde Zarizyn am 10. April 1925 in Stalingrad umbenannt.
Dann begann mit dem Angriff auf Polen am 1. September 1939 der 2. Weltkrieg. Der noch im August 1939 zwischen Stalin und Hitler geschlossene Nichtangriffspakt war ab dem 22. Juni 1941 Makulatur. Der euphemistisch als „Unternehmen Barbarossa“ bezeichnete Überfall Nazideutschlands auf die Sowjetunion brachte zunächst gewaltige militärische Erfolge gegen die völlig überraschten russischen Verbände, da Stalin bis zuletzt an die Einhaltung des Stillhaltepakts geglaubt und auf eine Generalmobilmachung verzichtet hatte. Im Spätsommer 1942 stand die Wehrmacht vor Stalingrad und begann am 23. August mit der Bombardierung der Stadt. Hitler und seine Generäle wollten mit der Eroberung Stalingrads die russisch-alliierten Nachschubwege über das Kaspische Meer und die Wolga hinauf nach Nordrusslandland unterbinden. Im November hatten die Deutschen bereits 90 Prozent des Stadtgebietes unter Kontrolle, so dass Hitler bereits mit einem Sieg triumphierte.
Die Wende der Schlacht um Stalingrad kam mit dem 19. November 1942, als es den russischen Verteidigern gelang, mit einer Gegenoffensive nun ihrerseits über 200.000 deutsche Soldaten der 6. Armee einzukesseln. Nach verlustreichen Häuserkämpfen, einem fürchterlich harten Winter, massiven Nachschubproblemen und der tragischen Fehlentscheidung des kommandierenden deutschen Generals Friedrich Paulus, bei einem deutschen Entsatzversuch den Soldaten des Unternehmens „Wintergewitter“ nicht entgegenzukommen, kapitulierte der völlig entkräftete Rest der 6. Armee am 2. Februar 1943 und über 108.000 deutsche sowie verbündete rumänische und kroatische Soldaten gingen in Kriegsgefangenschaft. Der Mythos „Stalingrad“ war geboren und seit 1945 darf die Stadt den offiziellen Beinamen „Heldenstadt“ tragen. Im Rahmen der Entstalinisierung wurde die Stadt schließlich in Wolgograd umgetauft.
Warum dieser kurze geschichtliche Rückblick? Wir wollen in Wolgograd auch nach Stalingrad, ja, man kommt als Besucher eigentlich nicht darum herum. Das Andenken an die Verteidungungshelden im „Großen vaterländischen Krieg“ wird in Wolgograd noch intensiv wach gehalten und beginnt schon mit der Begrüßung von Besuchern der Stadt durch die riesige „Mutter Heimat ruft“-Statue (82 Meter hoch, 8000 Tonnen schwer) auf dem einst so umkämpften Mamayew-Hügel. Allein hier sollen 33.000 Soldaten gefallen sein. Unübersehbar, ein Mahnmal, eine Gedenkstätte zugleich und von enormer Bedeutung für das Selbstbewusstsein der Wolgograder, der russischen Nation insgesamt.
Es ist Sonntag und wir nehmen einen Austag in Wolgograd. Gut getimt, denn es ist erstaunlich ruhig und beschaulich in den Straßen dieser Stadt, was man weiß Gott nicht von allen russischen Städten behaupten kann. Auch Wolgograd kennt ein Smogproblem, vor allem zu den Rushhour-Zeiten an Werktagen, wenn jeder nervöse Gasfuß demonstriert, dass der Fahrzeugbestand im Durchschnitt doch älter ist als bei uns und dazu noch LKW in der Stadt unterwegs sind, die unter Vollgas permanent eine dicke Russwolke hinter sich herziehen. Atem anhalten, durch und 100 Meter später wieder ausatmen. Heute Vormittag also etwas Erholung und fast freies Durchatmen auf der Ulitsa Komsomol’skaya, die uns über eine Brücke am Hauptbahnhof vorbei direkt ins Stadtzentrum führt.
Geradezu aufregend unser erster Versuch, mit der Tram Wolgograds zu fahren. Wir können die Tickets direkt im Wagen lösen, machen mit Hilfe eines Stadtplans und des Google-Translators klar, wohin wir wollen. Freundliche Reaktion der Kontrolleurin, lachende Fahrgäste, die uns noch helfen, an der richtigen Station auszusteigen. „Mutter Heimat“ wacht und streckt ihr Schwert direkt über dem nagelneuen Fußballstadion. Da kann man nicht dran vorbei und man soll es auch nicht! Der Weg hinauf zum Mamayew-Hügel erinnert mit seiner beflaggten Allee schon ein wenig an römische Zeiten. Dann geht es an einer kolossalen Felswand vorbei, in die Bildhauer heroisierte Kampfszenen aus der Schlacht um Stalingrad gemeißelt haben. Dazu ertönen Maschinengewehrsalven, die Explosion von Bomben und Granaten, das Heulen der deutschen Stukas (Sturzkampfbomber) und der russischen Stalinorgeln (Raketensalven-Werfer), bewegende Ausschnitte aus Reden und Proklamationen sowie Soldaten- und Triumphlieder. Russen mögen es groß und eindrucksvoll, da gibt es kein Kleinklein und bestimmt auch keine nervtötenden Denkmaldiskussionen wie in unserem Land, das - zugegeben - als schuldiger Kriegsanstifter und -verlierer natürlich einen schwierigeren Umgang mit der Vergangenheit bewältigen muss.
Sehr beeindruckend die Gedenkstätte unterhalb des Mamayew-Hügels. Vor einer ewigen Flamme halten Soldaten die Ehrenwache. An den Wänden der runden, nach oben dem Licht zu offenen Halle stehen auf vergoldeten Mosaiktafeln die Namen der gefallenen russischen Soldaten. Viele Besucher bringen Blumen mit und legen sie auf der Marmorumrandung der ewigen Flamme ab. Andere sind offenbar zu jung oder ungebildet, um den nötigen Respekt des Abstands aufzubringen. Sie stellen sich unmittelbar neben die Wachsoldaten oder direkt vor die Flamme und lassen sich mit einem „Smiley“ ablichten. Die jungen Wachsoldaten tun mir aufrichtig leid. Allein das stundenlange Strammstehen ist eine Qual - und dann noch Teil eines ungewollten Amüsements sein zu müssen…
Den Rest des Tages sind wir zu Fuß unterwegs, besuchen das Museum der „Schlacht um Stalingrad“, und obwohl derlei Museen (siehe Imperial War Museum in London) immer Gefahr laufen, zu einer Art Kultstätte von Militaria-Liebhabern zu verkommen, kann man den Wolgogradern bestätigen, dass sie die schrecklichen Kriegsereignisse in zwar anschaulicher, aber nicht bombastisch-heroisierender Form aufbereitet haben. Viele Soldatengesichter, viele Schicksale, unheimlich viel Detailrecherche, Fundstücke, Fotos, natürlich Waffen und Ausrüstung in großem Umfang, Lagepläne und Schlachtstrategien und ein interaktiv animiertes Reliefmodell Stalingrads. All das verlangt Stunden, will man alles sehen und verstehen, wobei Audio-Guides auch in Deutsch ein wenig helfen. Sehr beeindruckend: das ganz oben im Turm eines zylinderförmigen Teil des Museums angebrachte dreidimensionale Panorama, eine Art Kriegslandschaft mit den verschiedensten Szenarien des Krieges: vom Graben- und Häuserkampf über die Panzerschlacht bis hin zum Bombardement einer Stadt. Sehr aufwendig und so detailgenau, dass einem beim Betrachten wirklich der Kloß im Halse steckenbleibt.
Zum Abschluss des Tages muss der Kopf auslüften, sich erholen. Wir bummeln durch ein modernes Wolgograd, in dem die Menschen offensichtlich gerne leben, trinken Kaffee, haben nette Begegnungen. Die „Heldenstadt“ hat uns beeindruckt - sicher mit ihrer Vergangenheit, aber auch mit ihrer Wiederauferstehung und ihren Bürgern, die uns als Deutsche nie haben spüren lassen, was Hitler-Deutschland ihrer Stadt einst angetan hat. --
Kommentar schreiben
Roland Kater (Mittwoch, 05 September 2018 05:02)
Geschichtssträchtiger Boden, den ihr da befahrt!
Beeindruckende Fotos, in denen durch ihre Monumentalität der dahinterstehende historische Wahnsinn Ausdruck findet.
Geht's jetzt Richtung Meer?
Ich denke, ihr habt euch etwas "mediterrane" Leichtigkeit verdient...
Weiterhin gute Fahrt!