Reisetagebuch Russland 01. September 2018 - Tag: 380 km - Gesamt: 7112 km - Eintrag: Michaela & Udo
Von Saratow nach Wolgograd (Russland)
Der Schluck aus der Kilometerpulle wird heute etwas größer sein. Also sitzen wir bereits um 7 Uhr beim Frühstück im „Zagreb“. Atmosphärisch im Eiskühlfach! Nomen est omen, meint Michaela, die es mit den Serben eh nicht so hat. Nun gut, Saratow schläft noch, als die Enduros das hügelige Wolga-Ufer aus der Stadt hinaus erklimmen und wir mit Blick zurück auf die bereits wieder im Gegenlicht flirrende Stadt und die megabreite Wolga einige Fotos schießen. So was von Straßenbelag, wie wenn man einen Teig in eine Backform drückt und den Rand etwas hochstehen läßt. Tiefe LKW-Fahrspuren, bei denen man höllisch aufpassen muss, dass sie die leichten CRFs nicht aushebeln und die Fahrt zum Eiertanz machen. Ständig denkste, du hast ‚n Platten, so komisch rollt die Fuhre teilweise daher.
Die knapp 200 Kilometer bis Kamyshin bietet die Route alles, was wir bisher in Ostanatolien und im Iran an Landschaften erlebt haben: Steppe mit minimalem Buschbewuchs, ein Restgrün sozusagen, das sich vor allem dort bildet, wo noch Feuchtigkeit von verzweigten, versickerten Flussläufen übrig ist. Seitenwind mit Böen, so dass ich den überholenden Expressrussen jedesmal per Handzeichen oder „Fuss raus“ signalisiere, dass sie ein wenig Seitenabstand einhalten mögen. Ein endloser Horizont ohne Konturen, der das Asphaltband einfach wegschluckt. Fünf-, sechsprozentige Riesenwellen den Berg hinauf und wieder hinab in die angestaute Hitze eines Tales. Alles im Bereich von maximal 300 Höhenmeter, wie das Navi nüchtern meldet, und doch kommst man sich so klein und verloren vor in diesem riesigen Land. Ich stelle mir vor, was wäre, wenn hier eine Benzinpumpe versagte oder die Blackbox plötzlich ausfiele oder man sich auch „nur“ einen Nagel in den Reifen einfängt — alles denkbar und auf den schotterigen Seitenrändern oder vermüllten „Parkflächen“ neben der Straße auch durchaus möglich. Doch die Hondas laufen wie ein Uhrwerk und ich erwische mich dabei, dass ich meiner „Rally“ dreimal auf den Tank klopfe, als der Kilometerzähler der Gesamtreise die 7.000 überschreitet.
Spätestens in Kamyshin herrschen türkische Verhältnisse: Truckstopp direkt neben einem Kraftwerk, zig LKWs, geöffnete Motorhauben, zurückgeklappte Führerhäuser, Reparaturen am Straßenrand, dazwischen Melonenhändler, offene Grill- und Feuerstellen, Maiskolben und Lammfleischgeruch in der Luft. Das ist Orient pur! Und plötzlich wieder Blick auf die Wolga, ganz nah fürs Auge, wo sich der Strom doch viele Kilometer lang nicht sehen ließ. Und man begreift erst spät, dass es sich um weite Flussauen handelt, die als riesige Seen überbrückt werden, und dass „Mütterchen Russland“ viel weiter draußen fließt, dort hinten, dieser schmale Strich am Horizont. Am Ortsausgang von Olen'ye tut sich unterhalb einer Straßenbrücke bei einem Seitenblick ein schöner See auf, ein „Wolgasee“ mit Sandstrand und ein paar badenden und kreischenden Lausejungen. Wir halten, schießen Fotos und keine zwei Minuten später sind sie da, zeigen ihre Kunststücke und hüpfen von der meterhohen Brücke ins Wasser, spucken sich gegenseitig auf die Köpfe und machen obercool auf dicke Mucke. Jungen halt! Wir fingern ein paar TF-Kulis und Anhänger aus der Seitentasche, und schau: Plötzlich sind es doch wieder Kinder, die sich freuen können, auch wenn man höllisch aufpassen muss, dass sie sich nicht hinter deinem Rücken den Helm aufsetzen und die Mühle starten… 😅
Noch 90 Kilometer bis Wolgograd. Und drei nette Begegnungen: Mira, die einen blitzsauberen Stand neben einer Tankstelle führt. Leckerer Kaffee, freundlich und interessiert, freut sich riesig über Aufkleber mit unserer Website und zack, schon liest sie unseren Blog übersetzt auf Russisch. Abends kommt ihr Kommentar unter dem Blog: "Вы супер!" Danke, Mira, Du bist auch super!! Etwas später der Tankwart, der Michaela die Hand küsst, und sich respektvoll verneigt, nachdem sie ihm mit Hilfe unseres Aufklebers und einiger Städtenamen erklärt hat, woher wir kommen und wohin wir fahren. Und die junge, vierköpfige Familie, die auf dem Weg nach Hause ist, zur Halbinsel Krim, wie sie stolz erklären, bevor sie mit uns ein Erinnerungsfoto schießen.
Dann meldet der Horizont die ersten Hochhäuser — Wolgograd! Die Skyline füllt sich allmählich und dort, schau links, kratzt es in der Helmsprechanlage, da steht plötzlich „Mutter Heimat“. Barbusig, mit gezücktem Schwert. Mein Gott, ist die riesig, ein Gigant von Monument, und ich ziehe bei der ersten Gelegenheit in eine Tankstelle rein, stelle das Motorrad ab und muss dieses Bild machen. Ich weiß, da gehen wir doch morgen sowieso noch hin. Aber irgendwie gibt es immer Momente, auf die hast du die ganze Reise über gewartet. Und „Mutter Heimat“ auf dem Mamayev Kurgan-Hügel — das ist mein Moment. Die Stalis sind in Stalingrad…
Wolgograd ist aus den Trümmern der Schlacht quadratisch-praktisch wiederaufgebaut worden und orientierungsmäßig eher in die Kategorie „Einfach“ einzusortieren. Keine halbe Stunde Stadtgegurke und wir stehen vor dem noblen „Park Inn“. Zwei Nächte hat Michaela gebucht - zum Ausruhen, als Waschtag (inklusive Enduroklamotten) und natürlich für den geschichtlichen Stadtgang. Ein Hotel, um sich wohlzufühlen! Aber man hätte das Restaurant nicht von Paulaner einrichten lassen müssen, und dass die Kellnerinnen in „bayerischen“ Dirndl an den Tisch treten, ist irgendwie schon ein bisschen bizarr. Das sollte unser netter Russe sehen, der uns an der Wolga die Bedeutung des Freistaates auf seinem Fingernagel demonstrierte…
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Мира Рейх (Montag, 03 September 2018 12:08)
Счастливого пути)
Roland Kater (Montag, 03 September 2018 18:25)
Ich trinke grade ein "Paulaner"-Weißbier und lese, ihr hattet vorgestern auch eins! Im Ernst?
Auf euer Wohl - und weiterhin gute Fahrt!
(Stelle mir grade vor, wie M. im Dirndl auf der Enduro...)