Reisetagebuch Russland 28. August 2018 - Tag: 120 km - Gesamt: 5890 km - Eintrag: Michaela & Udo
Von Iwanowo nach Wladimir (Goldener Ring, Russland)
Ivanovo (auch Iwanowo) kennt keine Ruhe. Die ganze Nacht hindurch lärmt die Stadt: Baustellen, LKW und völlig abgedrehte Motorradfahrer, die mit offenen Auspufftüten die Hauptstraßen der Stadt hinunterbraten - wieder und immer wieder. Wir nächtigen im 4. Stock eines „charmanten“ Tourist Hotels mitten in einem Hochhaus-Wohngebiet und können den Avus-Sound unserer russischen „Kollegen“ in vollen Zügen genießen. Um den Rest der Nachtruhe kümmern sich ein paar fiese Mücken, die - weiß Gott wie - den Weg in die luftige Höhe unseres Zimmers gefunden haben. Bis ich sie alle erschlagen habe, ist es bereits drei Uhr morgens. Und dann pocht das Blut bei gefühlten 30 Grad (Tourist Hotels haben keine Klimaanlagen!) in deinen Adern und der Gedanke an den fehlenden Schlaf am nächsten Fahrtag hindert dich erst recht am Einschlafen…
Irgendwann müssen wir dann doch eingepennt sein. Wir wachen erst gegen halb acht auf und da ich mich morgens „traditionsgemäß“ noch eine Stunde lang um den Reiseblog kümmere, sitzen wir erst gegen halb zehn beim Frühstück. Das ist der Hammer in diesen Tourist-Bunkern: Man deckt den riesigen Speisesaal für 150 Personen komplett ein und dann sitzen da maximal drei, vier Gäste auf völlig verlorenem Posten. Die ehemals staatlich geführten Hotels hatten früher bei den Unterkünften eine Art Monopolstellung, müssen sich aber heute gegen eine zunehmend harte Konkurrenz an Privathotels und internationalen Hotelketten behaupten und tun sich recht schwer mit der Belegung ihres zumeist sehr großen Hauses. Trotz intensiver Renovierungen sind die Zimmer eher „sub-standard“, dafür aber auch für einfache russische Touristen oder Geschäftsleute bezahlbar. Mit Abendessen und Frühstück zahlen wir umgerechnet 45 Euro, und dafür gab es am Vorabend ein schmackhaftes Dinner und heute morgen ein durchaus akzeptables Frühstück. Um die Bikes hat man sich rührend bemüht; sie nächtigen im Hinterhof in einer völlig versifften „Garage“/Werkstatt, die der Hausmeister gestern Abend mit einem dicken Vorhängeschloss verriegelte.
Aufbruch gegen halb zwölf. Normalerweise eine Katastrophe, doch wir wollen heute nur bis nach Wladimir kommen und unterwegs lediglich noch die russische Klosterhochburg Suzdal mitnehmen. Also genug Zeit für schlappe 130 Kilometer. Als wir aus der Hochhaussiedlung hinaustuckern, steht da im 1. Stock des Hotels plötzlich jemand auf dem Balkon und winkt. Es ist der Hausmeister, der uns heute morgen schon erwartete, als wir im Hinterhof nach den Motorrädern schauen wollten, und sich sehr dafür interessierte, was wir denn im Weiteren noch alles vorhaben. Die kleinen Gesten sind es, die uns immer aufs Neue überraschen. Wie die vielen Hände, die uns plötzlich auf einem überholenden Auto zuwinken, oder die lachenden Gesichter und emporgestreckten Daumen der Beifahrer…
Suzdal (auch Susdal) hat nur knapp über 10.000 Einwohner, aber ebensoviele Klöster. Scherz 😄… Aber man fühlt sich schon heftig in eine andere Welt versetzt, wenn man dieses klerikale Freilichtmuseum betritt. Die Stadt zählt zu den ältesten Russlands, ist natürlich Teil des Goldenen Rings um Moskau und kann auf eine sehr bewegte Geschichte zurückblicken. War die Stadt im 14. Jahrhundert zusammen mit Nischni-Nowgorod noch eine Art Gegenpol zu den Moskauer Großfürsten, so entwickelte sich Susdal nach der bald darauf folgenden politischen Unterwerfung zu einem bedeutenden religiösen Zentrum. Als Bischofssitz und Pilgerstätte übt die Stadt bis heute eine - und nach dem Ende der Sowjetzeit verstärkt - eine große Anziehungskraft auf sowohl orthodoxe Gläubige als auch auf Touristen aus.
Interessant ist auch, dass Suzdals Klöster über die Jahrhunderte immer wieder zur Unterbringung politischer Gefangener genutzt wurden. So brachte bereits Katharina die Große ihre Gegner aus dem Pugatschow-Putsch hinter die Mauern des Erlöser-Euphemius-Klosters und im letzten Jahrhundert durfte der deutsche Generalfeldmarschall Friedrich Paulus mit einigen Generälen der 6. Armee dort ein paar Monate verbringen, nachdem er mit der Schlacht von Stalingrad die größte Katastrophe zweier Völker zu verantworten hatte. Nein, der Mann hatte nicht „nur einen Führerbefehl“ ausgeführt! Aber zu Stalingrad kommen wir ja noch ausführlicher auf dieser Reise…
Suzdal packt man nicht über die Mittagszeit. In dieser Stadt würde auch eine Woche kaum ausreichen, um alle Kirchen und Klöster zu besichtigen und deren Geschichte zu studieren. Wir entscheiden uns für „pars pro toto“, überwinden die Mittagshitze mit einem Besuch des Maria-Schutz-Nonnenklosters etwas außerhalb des eigentlichen Zentrums am Kamenka-Fluss. Auf dem gegenüberliegenden Ufer des Flüsschens gibt es ein Mönchskloster und angeblich sollen die beiden Klöster durch einen unterirdischen Gang miteinander verbunden gewesen sein…
Die erste frühe Nachmittagsstunde gehört abschließend dem ehemalige Suzdaler Kreml mit den weiß gekalkten Mauern des Erlöser-Euthymios-Klosters, dem Erzbischofspalast und dem Wahrzeichen Suzdals, den fünf blauen Kuppeln der Muttergottes-Geburts-Kathedrale. Beeindruckend!
Irgend etwas braut sich zusammen über dem Nordufer des Kamenka-Flusses. Es ist Wind aufgekommen und der Himmel schliert zu. Ein paar gewittrig anmutende Wolken schieben sich darüber und mahnen zum Aufbruch. Kein Wunder, betrachten wir die Hitze der letzten drei, vier Reisetage. Es ist eh erstaunlich, welches Wetterglück wir bisher mit dem stabilen Hoch genießen durften.
Unbeschadet und trocken erreichen wir eine Stunde später Wladimir und damit den letzten Edelstein auf unserer Route entlang des Goldenen Rings. Mit über 350.000 Einwohnern gehört die Stadt zu den größeren Städten des Rings, war in der Geschichte des Landes schon im 14. Jahrhundert ein bedeutendes Kultur- und Machtzentrum und ist heute noch Sitz des Metropoliten (Oberbischofs) der russisch-orthodoxen Kirche. Folgerichtig wohnen wir einem Gottesdienst in der im 12. Jh. erbauten Uspenski-Kathedrale (Mariä-Entschlafens-Kathedrale) bei, sind fasziniert von dem ungewohnten Ablauf des gut besuchten Gottesdienstes, und geblendet von der opulenten Ausschmückung der Kathedrale. Chorgesang und Glockenspiel, ein anschließender Spaziergang durch den Puschkin-Park, wo Akkordeonspieler sehnsuchtsvolle Lieder spielen, und ein Bummel entlang des Bolshaya Moskovskaya-Boulevards bis hinab zum Goldenen Tor — schöner kann man einen Abend in Wladimir wohl kaum verbringen.
„Digital Micha“ hat ihren Hoteljob dieses Mal perfekt erledigt und so können wir uns im altstadtnahen Vladimirsky Dvorik Mini-Hotel zu erholsamem Schlaf in die Kissen fallen lassen…
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