„Heiraten? Ich? Ich bin doch verheiratet. Wie soll ich eine bessere Frau finden als Aphrodite?“ Wer kann das schon von seiner Frau behaupten oder andersherum: Welche Frau wäre nicht überglücklich, wenn ihr Ehemann nach vielen gemeinsamen Jahren noch derart ins Schwärmen geriete? -
Im Falle Kenan T. Erims hielt die Beziehung an die 30 Jahre an und erst sein Tod 1990 sollte die Liebenden scheiden. Dabei gab es in der leidenschaftlichen Verbindung der beiden weder Sex noch Eifersucht und auch sollte die Ehe kinderlos bleiben, betrachtet man nicht die ausgegrabenen und wieder aufgerichteten Tempel, Säulen und Tore sowie zahllose Exponate in den großen Museen der Welt als ihre Kinder, als Früchte einer großen Lebensaufgabe. Denn Kenan T. Erim war Archäologe und seine Aphrodite war keine Frau aus Fleisch und Blut, sondern das gewaltige Grabungsgelände der antiken Kultstätte Aphrodisias im Süden des Mäandertales.
Wir haben uns schweren Herzens auf den Heimweg gemacht, haben Abschied von Sebastian, Murat und den netten Burschen des Iskelem-Teams in der Gökova-Bucht genommen und sind - sozusagen als Ausklang und Krönung unserer „Götter, Gräber und Geschichten“-Tour noch einmal kräftig ins Landesinnere vorgestoßen, um den in Stein gehauenen Verführungskünsten der griechischen Liebesgöttin Aphrodite zu erliegen. Wie könnte man sich die Tristesse einer jeden Heimreise besser versüßen?
Akyaka schläft noch halb an diesem Morgen und auf der fantastisch angelegten Serpentinenstraße hinauf auf die Hochebene von Muǧla gibt es kaum Gegenverkehr. Großes Kino mit tollen Breitbildpanoramen von der Gökova-Bucht und sattgrün bewaldeten Bergtälern. Weiter nach Tavas streift die Straße die ärmlichen Ortschaften Gölçük und Çakmak und gestattet Einblicke in ein völlig touristenfreies türkisches Dorfleben. Von Zeit zu Zeit haben die türkischen Straßenbauer noch ein paar staubige Überraschungen eingebaut, doch unterm Strich sind Erdoǧans Straßenprojekte erstaunlich weit vorangeschritten.
Noch vor wenigen Jahren fuhr man im Hinterland der Türkei über weite Abschnitte auf Schotter - heute sind die meisten Verbindungsstraßen asphaltiert, und zwar mehrspurig, zugleich aber auch landschaftsverachtend und bergeverschiebend direkt. Die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten ist bekanntlich eine Gerade, und so fackeln türkische Passtraßen oft nicht lange, sondern erstürmen die Berghöhen mit maximal zwei, drei Kehren in der Trassenführung.
Stadtleben in Kale und Tavas, dann knickt die Route nach Westen und holpert als schmale Landstraße über Karahisar nach Aphrodisias. Endlich wieder Arbeit für die Federelemente der Enduros. In Geyre ist eigentlich Endstation, denn die Zufahrt zum Grabungsgelände ist gesperrt und nur den Traktorfuhrwerken gestattet, die im Shuttle-Betrieb die Ladung der Ausflugsbusse aus Pamukkale, Marmaris und Bodrum gegen Eintrichtung einer Gebühr von 5 TL/Person nach Aphrodisias karren. Vielleicht war dies eines der Zugeständisse an die bedauernswerten Bewohner des alten Geyre. Als die Grabungen im großen Stil begannen, wurde das Dorf Geyre kurzerhand ausquartiert und ein paar Kilometer weit entfernt wieder „angepflanzt“. So was geht in der Türkei ohne große Gegenwehr, wenn die nehmende Hand von einer gebenden unterstützt wird. Dass sich nicht alle Hoffnungen in Sachen Einnahmen aus dem zu erwartenden Fremdenverkehr erfüllten, beweisen allerdings etliche leerstehende bzw. halbfertige „Apartments“ am Wegesrand. Die Busse kommen, Aphrodite empfängt schubweise ihre internationalen Verehrer und ein, zwei Stunden später rollt die Karawane wieder vom Oto Park. Bleiben und übernachten will in Geyre sicherlich niemand…
Wir setzen uns natürlich nicht in Motorradklamotten auf den Treckeranhänger (allein die Vorstellung…), sondern parken die Bikes direkt vor dem Eingang Aphrodisias. Ein 10 TL-Schein zusätzlich zu den 15 TL Eintrittsgeld pro Person versöhnt die Wärter mit unserem unkonventionellen Vorgehen und wir haben freie Bahn. Eine Stunde hatten wir veranschlagt - derer dreieinhalb werden es am Ende sein.
Welch’ eine Grabung, welche Dimensionen, welche archäologischen Schätze türmen sich hier! Zwar nicht so dicht und überschaubar wie in Ephesos, dafür aber umso gewaltiger und eindrucksvoller präsentieren sich die Schätze der antiken Kultstätte. Den Anfang eines Rundgangs macht das Tetrapylon, ein von lokalen Steinmetzen reichlich verziertes, vielsäuliges Zeremonientor, durch das der Besucher Zutritt zu einem Hain erhält, in dessen Zentrum der gewaltige Aphroditetempel liegt. Dessen Säulen wurden bereits teilweise wiederaufgerichtet, doch was nach etlichen Erdbeben auf dem Gelände noch an Säulen, Friesstücken und Mauerbrocken bunt verstreut herumliegt, bietet den Archäologen der federführenden New Yorker University sicherlich noch Arbeit auf viele Jahrzehnte hinaus.
Vierzehn von den einst vierunddreißig Säulen pieksen inzwischen wieder in den dunstig blauen Nachmittagshimmel und lassen die Größe und Anmut des „Tapınaks“ wenigstens erahnen. Unter byzantinischer Herrschaft wurde der eigentliche Kulttempel bis auf die Säulenhalle niedergerissen und man baute an seiner Stelle eine christliche Kirche. Doch Gott dem Allmächtigen muss das religiöse Kompetenzgerangel nicht gefallen haben, ließ er doch die Erde mehrfach beben und legte kurzerhand die gesamte Anlage flach.
Unser Rundgang führt über die Trümmer der ehemaligen Bildhauerschule zum erstaunlich gut erhaltenen Odeion, einem bürgerlichen Versammlungsort für den Rat der Stadt, aber auch einem zugleich bei der Bevölkerung sehr beliebten Veranstaltungsort für kulturelle Events. Holzgebälk aufstecken und Dach drauf - ein wenig statische Feinarbeit und man könnte dort mühelos ein Aphrodisias-Festival veranstalten, so gut sind die Sitzreihen, die Orchestra und die Bühne noch in Schuss. Moderne Architekten aufgemerkt - so können bürgernahe Veranstaltungstempel aussehen…
Um die Konkurrenzfähigkeit der antiken Bauherren noch anschaulicher darzustellen, sei als nächster Programmpunkt für fantasielose neuzeitliche Architekten der Weg hinüber zum Stadion empfohlen. Etwas mühevoll zwar, aber ein „Eye-opener“ der besonderen Art: 260 Meter lang, gute 60 Meter breit, an den Enden halbrund gezogen, damit jeder etwas sehen kann (offensichtlich keine gestaffelten Eintrittskartenpreise fürs Volk), eine kaiserliche VIP-Lounge in der Mitte und - das sei nun allerdings der Vorstellungskraft des Besuchers überlassen - eine das gesamte Areal umsäumende Säulenreihe als Verankerung einer gewaltigen Dachkonstruktion aus Holz. Die Bohrlöcher für die Holzpfeiler in den Sitzreihen sind noch zu sehen. „Ave, Tiberius, morituri te salutant“ - Gladiatoren, macht euch bereit. Es ist alles gerichtet!
Es wird langsam unangenehm heiß und staubig, schattenspendende Bäume sind Mangelware, und so ziehen wir uns kurzerhand in die Hadriansbäder zurück: Es warten kalte und heiße Wasserbäder (Caldarium), eine Sauna und der knackige Po einer Skulptur erfreuen Augen und Sinne. Weitere Entspannung verspricht ein Gang über die weitläufigen, mit Säulenarkaden umgebenen Plätze der Nord- und Südagora, jeder für sich satte 220 Meter lang und an die 70 Meter breit. Kaiser Tiberius wusste sehr wohl, herrschaftliche Größe zu repräsentieren und die Massen zu fesseln. Oberhalb der Tiberius-Agora stapfen die Endurostiefel einen staubigen Schuttberg hinauf, den „Höyük“, unter dem wohl noch die Trümmer uralter, bis ins 6. Jahrtausend v. Chr. zurückreichender Siedlungen begraben sind. Archäologe in Aphrodisias - da darf man sich wohl nicht über mangelnde Zukunftsaussichten beklagen…
Oben am Tribünenrand des großen Theaters atmen wir noch einmal tief durch und genießen das immer wärmer werdende Licht der Spätnachmittagssonne. Die Hälfte der Sitzreihen ist bereits in den Schatten gefallen, doch das Bühnenhaus leuchtet in der Sonne und dahinter erheben sich die Berge jenseits des Mäandertales. Ein Ort zum Verweilen…
Unweit des Ausgangs, dort, wo sich das „Materiallager“ für die unzähligen Friesstücke Aphrodisias’ befindet, lockt im Gegenlicht noch die dreistöckige Fassade des Sebasteions. Hier ließen sich die Kaiser von Augustus bis Nero kräftig huldigen, erlaubten den Bildhauern fantasievoll-frivole Reliefs, um die Blicke des Volkes zu fesseln, und konnten nach den Zeremonien auf einem überschaubaren Fußweg hinüber zum Tempel schlendern, wo man sich sicherlich um die weiteren Bedürfnisse kulinarisch-körperlicher Art bemühte. Kann es sein, dass unser Jahrhundert sich mit sehr vielen Nebensächlichkeiten herumschlägt?
Der Druck auf die Anlasser der Enduros katapultiert uns schlagartig zurück zu den Problemfragen unserer Tage: Wo gibt es eine Unterkunft im Umkreis von ein bis maximal zwei Stunden Fahrtzeit? Ab dem 1000 Meter hohen Yakşiler-Pass wird es landschaftlich schön, dörflich arm und straßenzustandsmäßig rau. Die Enduros freuen sich, in den Ortschaften winken endlich wieder echte Türken und die Stände am Straßenrand präsentieren keinen touristischen Schnickschnack mehr. Aber - tempus fugit, und zwar gewaltig. Nachts auf kleinen Nebenstrecken in der Türkei - das gehört wahrlich nicht zum Genussprogramm einer Reise. Pünktlich mit einem famosen Sonnenuntergang rollen die Bikes in das fruchtbare Tal des Menderes und wir befragen das Navi nach erreichbaren „Otels“. Drei vergebliche Anläufe, dann lockt das „Nysa Otel“ hoch über dem Ort Sultanhisar mit seiner weithin sichtbaren Leuchtschrift. Bingo! Zimmer frei, bezahlbar, und die weitläufige Apartmenthotel-Anlage mit wunderbar angelegter Gartenschau ist eine Augenweide für sich. Im Terrassenrestaurant sitzt man wie in einer kaiserlichen Loge - Aphrodisias wirkt nach… Und als im Mäandertal gleich drei Muezzinrufe um die Gunst Allahs und zum Gebet rufen, sind wir wieder im wahren Herzen der Türkei angekommen.
Die Tage des Projekts „Götter, Gräber und Geschichten“ sind gezählt. Die noch verbleibende Reisezeit gehört der Heimkehr über İzmir, Çanakkale, Ipsala, Alexandroupoli, Kavala, Thessaloniki, Veria und Igoumenitsa. Eine Fähre der Minoan-Line wird uns wieder ins vertraute Italien schippern. Mit unseren Blog-Geschichten wollen wir es halten wie mit guten Veranstaltungen oder erfolgreichen Karrieren: Aufhören, wenn es am schönsten ist. ;-)
Gut 7000 Kilometer liegen hinter uns, knapp 100 Stunden im Sattel. Dank an alle Leser dieses Reiseblogs fürs Mitreisen und Kommentieren. Wir hoffen, Ihr hattet Freude an den Bildern, habt Stoff zum Träumen bekommen und konntet die eine oder andere Anregung für zukünftige Reisepläne mitnehmen.
Bis zum nächsten Mal unterwegs und „on the road“ grüßen Euch und Sie
Michaela & Udo Staleker
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